Zu den größten Bedürfnissen von uns Menschen gehören die Sehnsucht nach Sicherheit und nach Zugehörigkeit. Dem entsprechen unsere großen menschlichen Schwachstellen: die Unsicherheit und die Einsamkeit.
Diese treten jetzt in der sogenannten Corona-Krise deutlich hervor. Daraus ergeben sich aus meiner Sicht derzeit drei Fragen:
1. Worauf vertrauen wir wirklich?
2. Was macht Kirche aus?
3. Was heißt das für unser gemeinsames liturgisches Leben und Feiern?
Auf alle drei Fragen die für uns passenden Antworten zu finden, gehört zum „Kerngeschäft“ jeder christlichen Gemeinde. Diese Antworten können wir nur im Miteinander, in der Gemeinschaft, der Communio finden. Mit den derzeitigen Abstands- und Versammlungsregelungen ist es noch schwieriger als ohnehin. Die Antworten können aber nicht warten, bis sich die bedrohliche Situation aufgelöst hat.
Weil ich auf diese Fragen keine zufriedenstellenden Antworten alleine finden kann, versuche ich auf diesem Weg mit allen, die Interesse haben, in einen Austausch zu kommen.
Ein paar Denkanstöße und Diskussionsbeiträge stelle ich im Folgenden zur Verfügung. Wenn manche zugespitzt oder gar provozierend formuliert sind, soll das zur Auseinandersetzung und zur Gegenrede reizen.
1. Worauf vertrauen wir wirklich?
Zunächst vertraue ich auf die Zusage Gottes, die Jesus verkörpert:
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“
Ebenso stärkt mich die Verheißung Jesu vor seinem Abschied:
„Seht, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
Die bleibende Gegenwart des Auferstandenen zeigt sich nicht nur in der Eucharistie. Sie zeigt sich in der Ebenbildlichkeit Gottes, die jeden Menschen prägt. Sie zeigt sich in den Charismen aller Getauften, denen die prophetische, priesterliche und königliche Würde zugesagt ist.
Wenn es darum geht, wie Ignatius von Loyola sagt, dass wir Gott in allem suchen und finden, dann ist das eine Herausforderung und gleichzeitig eine Einladung und eine Verheißung. „Wo zwei oder drei in meinem Namen…“ bedeutet für alle gottesdienstlichen Formen und Feiern, dass Gott in unserer Mitte ist und unsere Mitte sein will. Und er ist gegenwärtig in allen Menschen, für die wir zu den Nächsten werden. Das gilt besonders für die Identifikation Jesu mit den Geringsten aller Art.
Ebenso vertraue ich auf die Erfahrung der ersten Christengemeinden, die in ihren Häusern, in den „Hauskirchen“, ihren Glauben gefeiert haben und so zu den Ursprungszellen unserer Glaubensgeschichte geworden sind. Ich vertraue auch darauf, dass Kirche als „systemrelevant“ wahrgenommen wird, wenn sie sich nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sondern ihren Glauben im caritativen und diakonischen Bereich lebt und bezeugt.
Und schließlich vertraue ich darauf, dass es sich lohnt, jede Krise als Chance zum Wachsen und Reifen zu nutzen.
Ignatius von Loyola war Mitbegründer und Gestalter der später auch als Jesuitenorden bezeichneten "Gesellschaft Jesu"
Foto: Robert Reischl
2. Was macht Kirche aus?
Liturgie ist nur ein wesentlicher Teil von Kirche. Wenn derzeit durch äußere Einflüsse und Bestimmungen dieser Teil stark eingeschränkt wird, können wir darin den Impuls wahrnehmen, die beiden anderen Säulen von Kirche mehr in den Blick zu nehmen, zu betonen und auszubauen:
die gelebte Nächstenliebe und das gelebte Glaubenszeugnis.
Beides sind Kernkompetenzen unserer Kirche und beide sind systemrelevant für unsere Gesellschaft. Gerade im Bereich der Caritas, der gelebten Nächstenliebe, werden wir von vielen Menschen wahrgenommen und ernstgenommen und sind als Kirche glaubwürdig, wie bei keinem anderen Thema.
Wir könnten uns verstärkt denen zu wenden, die jetzt schon von uns und der Gesellschaft ausgegrenzt werden:
Alte, Kranke, Einsame, Menschen, die in unserer Arbeitswelt keinen Platz finden, alle, die nicht nach den offiziellen kirchlichen Normen leben und glauben…und viele mehr. Schon bei dieser Aufzählung wird deutlich, dass es nicht um kleine Gruppen, sondern um die Mehrheit der Menschen geht.
Jesus fragt nicht, ob wir zulassen, dass diese Menschen unsere Nächsten sind. Er fragt, ob wir bereit sind, selber für diese Menschen zu den Nächsten zu werden. Jetzt sind wir als Kirche besonders gefragt, Menschen in Not in den Mittelpunkt unseres Handelns und unseres öffentlichen Auftretens zu stellen. In all diesen Menschen begegnen wir Gott genauso wie in der Liturgie.
„Kirche“ heißt „zum Herrn gehörig“. Wo und wie spüren und erleben die Menschen in unserem Umfeld, dass wir zum Herrn gehören? Wo und wie geben wir Zeugnis von unserem Glauben? „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach euerer Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“ (1Petrus 3,15)
Was könnte uns helfen, das zu tun und zu leben? Was bräuchten wir dafür? Auch darüber miteinander ins Gespräch zu kommen lohnt sich. Auch in solchen Auseinandersetzungen ist Gott gegenwärtig: „Wo zwei oder drei in meinem Namen…“.
Alle, auch ich, denen die Liturgie, ein Herzensanliegen ist, müssen ja nicht auf Gottesdienste insgesamt verzichten, sondern „nur“ auf die gewohnten Formen. Von einigen Hausgemeinschaften weiß ich, dass sie regelmäßig zuhause unterschiedliche Formen von Gottesdienst feiern. Die „Hauskirche“ als Keimzelle von Kirche und Christentum, so wie es vor knapp 2000 Jahren „normal“ war, ist ein kostbarer Ort, um Leben und Glauben zu teilen.
Setzen Sie sich mit Ihrer Wohngemeinschaft, Hausgemeinschaft oder Nachbarschaft zusammen und teilen Sie das Leben, das Wort Gottes, die Gaben der Schöpfung und feiern Sie so Eucharistie!
Das wäre das Wesentliche. In Ergänzung dieser Hauskirchen braucht es die Feier in der großen Gemeinschaft der vielen unterschiedlichen kleinen Gemeinschaften.
3. Was heißt das für unser gemeinsames liturgisches Leben und Feiern?
Diese große gemeinsame Feier ist derzeit nicht in gewohnter Weise möglich. „Schütze deinen Nächsten wie dich selbst!“ So lässt sich das Doppelgebot der Liebe zur Zeit umformulieren. Deshalb ist ein Verzicht auf die Eucharistie ein besonderes Opfer, das wir aus Solidarität mit allen Menschen aufbringen. Es steht uns gut an, auf Feiern zu verzichten, bei denen wir mehr Menschen ausschließen als einladen.
Was soll das für eine Communio sein, bei der die allermeisten exkommuniziert werden?
Bei den derzeitigen Anordnungen stehen die Normen und Strukturen über allem, was eine gottesdienstliche Versammlung zu einer Feier werden lässt.
Und: Bei der Vorgehensweise unserer Kirchenleitung laufen wir wieder Gefahr, Gottesdienst und Eucharistie gleichzusetzen. Wenn uns gesagt wird, dass wir über Monate nicht mehr in gewohnter Weise Gottesdienste feiern werden können, wird es anstrengend, aber zugleich lohnenswert, nach anderen liturgischen Formen zu schauen und sie zu leben und zu feiern.
Ich freue mich, wenn wir uns in unserer Kirche wieder mehr mit Inhalten, mit dem, was uns von innen hält, beschäftigen!
Marbach, 16. Mai 2020 Stefan Spitznagel